Ich lebe seit vielen Jahren in einer Gegend, in der das Duzen ganz groß geschrieben wird – auch in der Arbeitswelt. Wer neu in ein lokales Unternehmen kommt, wird automatisch geduzt und duzt auch zurück – und das über die Hierarchien hinweg. Für diejenigen, die dieses umgängliche, verbindende „Du“ gewöhnt sind, hat die Anrede mit“Sie“ den Ruf einer steifen und damit trennenden Förmlichkeit. Doch kann man das Siezen wirklich darauf reduzieren?
Bei einem neuen Arbeitgeber von Anfang an geduzt und mit Vornamen angesprochen zu werden, ist angenehm. Man fühlt sich sofort aufgenommen in den Kreis der bestehenden Belegschaft. Aber je mehr ich über den Unterschied von „Duzen“ und „Siezen“ bei der Arbeit nachdenke, desto mehr werden mir kleinere sprachliche Nuancen und ihre gefühlte Bedeutung bewusst.
Wenn man z. B. ganz förmlich mit „Sie“ und der Anrede mit Nachnamen in ein Unternehmen einsteigt, dann hat man sozusagen Entwicklungsstufen der Integration vor sich, die von förmlich korrekt Richtung freundschaftlich und persönlich vertraut führen.
Lasst mich erklären was ich meine:
Am ersten Tag wird womöglich diejenige Person das Du anbieten, die am engsten mit einem zusammenarbeiten wird. Das gibt einem in der unbekannten Unternehmensstruktur das Signal, wer sich für einen zuständig fühlt.
Ist man schon etwas länger im Unternehmen, werden vereinzelt Personen, mit denen man viel zu tun hat oder die man zufällig öfters auf dem Parkplatz, im Treppenhaus oder in der Kaffeeküche getroffen hat, das Du anbieten. Jeder Wechsel vom „Sie“ zum „Du“ ist damit an ein persönliches Gespräch gebunden und damit an ein ganz bewusstes Signal gekoppelt im Stile von „Ich habe Dich auserwählt und will Dich in meinen engeren Kreis aufnehmen“.
Es kann auch längere Zeit Personen geben, mit denen man viel zu tun hat, ohne dass das „Du“ angeboten wird. Dann ist es aber wahrscheinlich, dass es irgendwann einmal wie ausgereift unausgesprochen in der Luft liegt. Beide Seiten spüren, die Zeit ist reif für einen Schritt, der die gestiegene Vertrautheit untermauert. Sollte also schließlich das „Du“ von einem Menschen angeboten werden, der derart lange am „Sie“ festgehalten hat, dann hat das eine ganz tiefe Bedeutsamkeit.
Natürlich ist ein Beziehungsgeflecht kompliziert, in dem unterschiedliche Vertrautheitsgrade sich in der gegenseitigen Ansprache widerspiegeln. Die vielen möglichen Varianten können überfordern. Da ist ein grundsätzliches „Du“ sicher leichter zu handhaben.
Doch ganz ehrlich:
Wenn die eigene Muttersprache und Kultur mehr Nuancen in der Ansprache anderer Personen zulassen als z. B. die englische Sprache, dann hat das schon auch etwas – und zwar etwas Bereicherndes.