Mit der ersten Tasse Kaffee des Tages und noch im Pseudo-Schlafanzug in Form von T-Shirt und Schlabberhose bekleidet, stehe ich auf der Terrasse und stelle erfreut fest, dass sich mir eine schon lange vermisste Konstellation bietet:
Ich habe Zeit, ich habe ein gutes Buch und selbst die dieses Jahr bisher sehr zurückhaltende Sonne scheint aufmunternd von einem wolkenlos blauen Himmel.
Da sitze ich nun also kurz darauf mit Thomas Vaseks „Work-Life-Bullshit – Warum die Trennung von Arbeit und Leben in die Irre führt“ im Gartenstuhl und freue mich auf die Lektüre. Provokante Titel gefallen mir. Themen mit philosophischem Touch erst recht. Mal gespannt…
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? – An diesem Missverständnis arbeiten sich Millionen Menschen ab.“ leitet der Klappentext ein und endet mit „Denn ohne Arbeit verkümmert der Mensch, statt sich zu entfalten.“. Aha. OK. Soweit so gut. Das klassische Work-Life-Balance Gerede und Geschreibe kann ich eh nicht mehr hören. Aber wird mir dieses Buch einen nachvollziehbaren Gegenpol bieten?
Auch wenn ich aus alter Gewohnheit dazu verleitet bin, verkneife ich es mir, die Einleitung zu überspringen. Gott sei Dank!
Hätte ich diese Seiten nicht gelesen, dann hätte ich doch tatsächlich das verpasst, was mich persönlich am meisten angesprochen hat und immer noch bewegt!
Obwohl der Wortlaut Herzblut und Überzeugung des Autors vermuten lässt, scheinen diese Aussagen für ihn nicht denselben Stellenwert zu haben wie für mich, denn im Hauptteil kommen sie zwar immer wieder vor, aber meinem Empfinden nach zu brav. Wahrscheinlich hat der Autor diese wesentliche Aussage schon so verinnerlicht, dass er gar nicht mehr merkt, dass sie vor lauter Seriosität zu kurz kommen könnte.
Keeeein Problem!
Nur weil mir in diesem Zusammenhang etwas Tiefgang fehlt, heißt das ja nicht, dass ich nicht selber darüber sinnieren darf. Und es heißt erst recht nicht, dass ich nicht diese gefühlt zu kurz gekommene Aussage in meinem Text zu dem machen darf, was sie meiner Einschätzung nach ist: die Kernaussage!
Aber jetzt erstmal zurück zu Gartenstuhl und Sonnenschein und dem Buch, bei dem ich gerade einmal auf Seite 25 angekommen bin. Da! Da ist er! Der Satz der mich dazu bewegt aufzustehen, in die Wohnung und zur Schublade mit den Schreibutensilien zu gehen.
Innerlich aufgewühlt nehme ich in einem zugegebenermaßen etwas übertriebenen Anflug von Geschäftigkeit einen Bleistift aus der Schublade heraus und spurte zum Buch zurück.
Mit leichtem Zögern, aber voller Überzeugung setze ich den Bleistift an und streiche meine persönlichen Wachrüttlersätze an – und das in einem Buch aus der Bibliothek. Wow! Ein ganz schöner Schritt für mich als liebes, braves, wohlerzogenes Mädchen. Naja, ehemaliges Mädchen, um genau zu sein. Schließlich darf ein liebes, braves, wohlerzogenes ehemaliges Mädchen auch nicht lügen.
Da ist er also: Ein zarter Bleistiftstrich auf Seite 25 eines ausgeliehen Buches! Was wohl die nachfolgenden Ausleiher darüber denken? Mmh, ich kann’s ja wieder wegradieren.
„Wer den Kapitalismus verändern will, muss zuallererst die Arbeit revolutionieren.“
Ups, noch einmal zuckt meine Hand und streift den Stift wie ferngesteuert über’s Papeir:
„Wir sollten die Arbeit nicht kaputt reden, sondern sie verändern. Das ist die eigentliche, zentrale gesellschaftliche Herausforderung. Da sind Politik und Wirtschaft gefragt.“ heißt es hier neben meiner nicht mehr ganz so zurückhaltenden Markierung. Mmh, vielleicht radiere ich das doch nicht aus. Kann ja nichts schaden, wenn diese Sätze ins Auge fallen.
Zum Glück sieht mich keiner, denn ich muss auf der Terrasse kurz auflachen und schüttle sogar den Kopf, wie mir kurz danach bewusst wird. Haha! Ich Revoluzzer! Ein Bleistiftstrich in einem Buch, das nicht mir gehört. Bin ich mutig. Mit Leuten wie mir kann man die Welt verändern.
Ganz offenbar habe ich nun meine selektive Brille aufgesetzt. Trotz unleugbarem Lesevergnügen, richte ich mein Augenmerk nahezu krampfhaft auf Aussagen, die meine persönlichen Aufwühl-Sätze untermauern. Meine Wahrnehmung konzentriert sich also auf die Aussagen, die auch dem Text auf dem Buchumschlag gerecht werden, Thomas Vaseks Werk sei ein Plädoyer „dafür, dass wir nicht für mehr Freizeit, sondern für gute Arbeit auf die Barrikaden gehen.“
Das Buch liest sich sehr gut. Es ist spannend. Ich bin überrascht, mit welchem Tiefgang so ein vermeintlich alltäglich-simples Thema wie Arbeit in allen Epochen behandelt wurde. Ich genieße regelrecht die Ergebnisse der ausgezeichneten Literaturrecherche. Mein Gott, die Aussagen dieser ganzen Philosophen und Denker würden mich ja total überfordern, wenn Vasek sie nicht so gekonnt zusammenfassen und miteinander in Beziehung setzen würde. Die genussvolle Lesezeit unterbreche ich nur für gelegentliche weitere Bleistiftmarkierungen. Leider zumeist an Stellen, die mich in anderem Zusammenhang ansprechen, als dass sie meinem persönlich-Hauptaussage-Suchkriterium entsprächen:
Wo ist sie, die klare Aufforderung, Arbeit dahingehend zu verändern, dass sie dem entspricht, was er an vielen Stellen als „gut“ bezeichnet?
Ich kann es nicht leugnen, von „guter“ Arbeit schreibt Vasek viel. Es wird mir durchaus klar, welche Bedingungen er an diesen Begriff knüpft und wie wichtig es ihm ist zu verdeutlichen, dass diese beschriebenen Umstände und Kriterien die Basis dessen sind, was ihn motiviert, die Sinnhaftigkeit einer Balance und damit Trennung von Work und Life zu hinterfragen.
Vasek trifft durchaus Aussagen die meinem Augenmerk nicht entgehen, wie z. B. „Dann ist gute Arbeit nicht bloß ein Wunsch, sondern ein Anspruch.“ (S. 161).
Ist ja gut und recht, wenn er fachmännisch einen wohldurchdachten Anspruch auf „gute“ Arbeit herleitet. Aber, warum in Gottes Namen geht er nun nicht einen Schritt weiter und ruft konkret zu Aktionen auf? „Wenn wir die Arbeit verändern wollen, müssen wir auf Diskussionen bestehen, und zwar auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene.“ (S. 262). Genau. Ich ertappe mich bei einer dezenten zustimmenden Kopfbewegung. Aber aus meinem bequemen Gartenstuhl treibt mich das nicht….
Laut Vasek motiviere „gute“ Arbeit, indem sie Sinn vermittle. Gute Vorgesetzte müssten daher „in erster Linie die Rahmenbedingungen für gute Arbeit schaffen, die Mitarbeiter von innen heraus motivieren“ (S. 186).
Ja, hallo? Jetzt wissen die mit einem Blick darüber Hinweghuscher, was sie tun müssen, oder wie? Ihr-müsst-was-Tun-Randnotizen in die Welt setzen und dann einfach nur Weiterphilosophieren, statt zum Handeln aufzufordern oder Ratschläge zu erteilen. Prima. Sehr effektiv.
Ok,ok, zugegeben. Diese von leichter Enttäuschung getragene Anklage war jetzt nicht gerecht. Vasek ist Philosoph. Sein Metier ist das Vordenken. Es ist ok, wenn seine Aussagen bloße Denkanstöße darstellen. Möglichkeiten der Umsetzungen dürfen nun die suchen, die den Anstoß wahrgenommen haben. Hoffentlich sind es auch tatsächlich ein paar.
Natürlich habe ich die Lektüre des Buches nicht in einen Sonnenschein-Vormittag untergebracht. Die Tralala-ich-setz-mich-gemütlich-auf-die-Terrasse-Stimmung ist dadurch irgendwie auch mit verflogen.
Deshalb komme ich nun einfach zum Ende, indem ich sage:
Leute, wer das Buch noch nicht kennt, lest es, es lohnt sich. Wer kein Geld in die Hand nehmen will, kann es ja in der Bibliothek ausleihen. Dann aber bitte nicht petzen, falls irgendwo Bleistiftmarkierungen zu finden sind…
Eine Bitte habe ich noch: Nehmt Euch vor der Lektüre bewusst vor, neutral an das Thema heranzugehen. Versucht, Eure Vorerfahrungen und Prägungen beiseite zu schieben. Bemüht Euch darum, alles wahrzunehmen, statt nur das in Euer Bewusstsein dringen zu lassen, was Euren persönlichen Selektions-Kriterien entspricht.
Dann sehe ich eine Chance, dass man das Buch weder missbraucht, um die real existierende Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit uneingeschränkt gutzuheißen, noch dem Autoren aufgrund der eigenen selektiven Wahrnehmung missmutig unterstellt, es würde unreflektiert genau dafür plädieren.
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